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"Wortlos" und "Das gewonnene Alphabet"

von<br> Theo Breuer

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Eine beliebte Süßigkeit, die man früher für ein paar Groschen am Kiosk erwerben konnte, war das sogenannte Esspapier. Theo Breuer, so scheint es, hat nie mit dem Naschen aufgehört. Ein Buch nach dem anderen nimmt er zu sich, und das Charmante an seinem unstillbaren Lesehunger ist, dass er die Leserinnen und Leser daran teilhaben lässt. Sein waches Interesse an neuesten Strömungen in der zeitgenössischen Lyrik und Prosa findet reichhaltigen Ausdruck in den seit 1999 erschienenen Monographien? zur Poesie vor und nach 2000.

Breuer macht sich jede Anregung umgehend zunutze, verarbeitet sie in einfühlsamen Essays und leitet so eine stilistische Neuorientierung ein, die zu denken gibt. Über deren Tragweite und sein Selbstverständnis als Autor, der einen Weg jenseits von Avantgarde und Postmoderne beschreitet, legt er in den ebenso tiefsinnigen wie luziden Selbstbefragungen seiner Bücher Rechenschaft ab.

Die Monographien »Ohne Punkt & Komma. Lyrik in den 90er Jahren« (1999), das opus magnum »Aus dem Hinterland. Lyrik nach 2000« (2005) sowie »Kiesel & Kastanie. Von neuen Gedichten und Geschichten« (2008) präsentieren die pralle Pracht der Poesie im deutschen Sprachraum – und darüber hinaus. Der Lyriker, Herausgeber und Verleger Theo Breuer, gleichsam Erfinder der lyrisch-essayistischen Fußnote?, drückt dieser mit seinen lyrischen Essays einen sehr persönlichen Stempel auf, er ist zugleich Liebhaber, Sammler und Enzyklopädist, setzt sich der Wörter-, Bilder- und Textflut aus, die uns täglich umspült und sucht aus verqueren Verweisen stimmige Strukturen abzuleiten.

Notwehr aus dem Hinterland

Breuer ist literaturbesessen im besten Sinne des Wortes. Er ist nicht nur begeisterter Liebhaber literarischen Schaffens, sondern einfühlsamer Leser und kenntnisreicher Vermittler – mit der Finesse, Bücher in seinen Monographien auch entsprechend vorzustellen zu können.

Theo Breuer agiert quasi in Notwehr. Da das deutschsprachige Feuilleton nurmehr interessengesteuert einen mehr als eingeengten Blick in den Literaturbetrieb ermöglicht, leistet er »aus dem Hinterland« eine ernorm wichtige Aufklärungsarbeit. Er überzeugt den Leser mit einer Präsenz und einer Glaubwürdigkeit, die immer wieder neu frappiert. Frei von jedem Manierismus schildert Breuer die Vielfalt poetischer Stimmen im deutschen Sprachraum und stellt vom Feuilleton ignorierte Autoren, Handpressen und Kleinverlage? in den Mittelpunkt des Interesses. Es geht ihm eben nicht um die Betonung der Wertungsgefüge innerhalb des Literaturbetriebs, sondern, im Gegenteil, auf eigene Maßstäbe. In der hinterländischen Provinz – Sistig liegt im Nationalpark Eifel – bricht sich die Gabe des Beobachters Bahn, der enorme literarische Reserven anlegt. In diesem von ihm nach dem gleichnamigen großartigen Gedicht Jürgen Nendzas benannten Hinterland lebt Theo Breuer als sesshafter Nomade und Mythenzerstörer.

Dieser Autor ist Lyriker, begnadeter Reisechronist und Briefschreiber? (auch seine Mails lesen sich wie Briefe). Mit Theo Breuer über Gedichte, Romane, das Erarbeiten einer Figur oder über das Werk? von Schriftstellern zu korrespondieren ist zugleich die Erfahrung, mit einem Menschen im Briefwechsel zu stehen, der sein Metier liebt, einem Schreiber von Essays, Buchvorstellungen oder Autorenporträts zu begegnen, der weiß: Schreiben bedeutet, einer fremden Figur Gestalt zu geben, und nicht, die eigene Person in den Mittelpunkt zu stellen.

Die Spannungen zwischen der eigenen, offenbar bewusst an der Peripherie, dem deutsch-belgischen Hügelgrenzland gelebten Existenz und des Literaturbetriebs kann er vielleicht deshalb so gut aushalten, weil er sie, über sie reflektierend, neutralisiert und relativiert. Ein Blatt nimmt er dabei selten vor den Mund, schreibt jedoch mit Vorliebe über die erquicklichen Dinge des literarischen Daseins, die er ins Bewusstsein der Leser heben möchte, und schweigt gern über Stoffe, die nicht der Rede wert sind. Das Schwein gehört in den Stall, nie wird im Hinterland eine Sau durchs Dorf gejagt, wie es in Berlin und anderen Metropolen an der feuilletonistischen? Tagesordnung ist.

Edition YE

1993 gründete Theo Breuer die Edition YE mit der lyrischen Kunstschachtel YE. 1994 erschien erstmals Faltblatt, die Lyrikzeitschrift, von der bislang neun, von Mal zu Mal umfangreicher werdende Ausgaben erschienen. 2002 wurde die Lyrikreihe mit Gedichtbänden von Margot Beierwaltes, Marianne Glaßer, Andreas Noga, Frank Milautzcki, Joseph Buhl u.a. ins Leben gerufen. Die 2003 edierte Lyrik-Anthologie? »Nord West Süd Ost?« mit Gedichten von 66 Zeitgenossen bietet einen respektablen Querschnitt deutschsprachiger Lyrik kurz nach der Jahrtausendwende, die er in Karl-Friedrich Hackers Itzehoer edition bauwagen mit bislang sieben handgeschriebenen Künstlerbüchern, die originale Autographen von jeweils 19 Lyrikerinnen und Lyrikern bergen, im wahrsten Sinne des Wortes unmittelbar und originell fortschreibt.

Kontakt, Korrespondenz, Kollaboration und Kommunikation sind Idealvorstellungen, die Breuers verlegerische Tätigkeit begleiten. ‚The Breuer’ ist eine Instanz mit größter Sensitivität und Einfallsreichtum. Er deckt die sich verändernden Realitäten im Literaturbetrieb auf und hat Anteil an den Versuchen, eine lebendige Kritik wiederzubeleben und auf anspruchsvolle Literatur abseits des Mainstreams aufmerksam zu machen.

Wortlos und andere Gedichte

Über den Essayisten, Herausgeber und unermüdlichen Chronisten wird unter den Kurzsichtigen des Betriebs der vielseitige Lyriker Theo Breuer, dessen erstes Gedichtbuch 1988 erschien, gelegentlich gern übersehen. »Wortlos und andere Gedichte« heißt, programmatisch, das 2009 erschienene Lyrikbuch, in dem sich neben neuen Gedichten auch bereits bekannte Gedichte in neuen Fassungen finden. Das Buch ist im Anhang mit ausführlichen Anmerkungen versehen, die einen differenzierten und unterhaltsamen Einblick in die Textwerkstatt des Autors gewähren.

Ähnlich »Mittendrin« (1991), »Der blaue Schmetterling« (1993), »Das letzte Wort hat Brinkmann« (1996), »Land Stadt Flucht« (2002) oder »Nacht im Kreuz« (2006) lässt Theo Breuer literarische Heimatkunde auf Exotismus treffen, zeitgenössische Wirklichkeit auf Vergangenheitsgespenster. Es offenbaren sich Reibungsflächen der Moderne, die Gedichte deuten auf ein linguistisches System: Logik, Behauptung, Spekulation und Instruktion sind wie beiläufig zu lesen. Was im diesem selbsternannten Hinterland entsteht, ist ein wortwörtliches oder visuelles Spiel, das der Lyrik offenbar mühelos den Hintergrund verleiht.

»Wortlos« ist wahrhaft wortstark. Gleich das erste Gedicht – »auf der straße« – ist eine Wucht. Und »du! (ruchu dur spruchu ust dus guducht)« sollte auf Plakatwänden kleben, zu den Favoriten von Sprayern gehören. Theo Breuer entdeckt die Narreteien der Sprache immer mehr und immer wieder aufs Neue, laufend fällt der Leser in schöne Stolperfelder, drempels bis in die reine visuellpoetische Zeichenhaftigkeit hinein ziehen das Auge an: ‚Sprachstreugutbreuergut’. Was auch immer für Erwägungen und Telefonate hinter dem Gedicht »forever young« stecken mögen – ich empfinde es als ein leises und zartes Gedicht mit der herrlichen Wortschöpfung: »mondschraubengroßmutter«. Das Gedicht ist natürlich satirisch, aber auch leise-melancholisch.

Schöne Gedichte, eindrückliche Gedichte: im Experimentellen mitwebend und doch von großartiger Klarheit, dadurch unverwechselbar in Theo Breuers Ton und Duktus verfasst. (Wobei in Bezug auf das Experimentelle auf das hinzuweisen ist, was Ann Cotten? im Bella-triste-Lyrik-Mail-Austausch mit Florian Voß – beide sind ja gewissermaßen Breuers Nachbarn in »Der Große Conrady« – beklagt, dass nämlich niemand diesen Terminus möge, es aber keinen besseren gebe.) In die Michael Hamburger gewidmeten Gedichte beißt man, wie Andreas Noga es in seiner »Wortlos«-Besprechung im Poetenladen beschreibt, herzhaft hinein und empfiehlt sie wie ein saftiges Apfelstück weiter.

Was noch hervorheben?

Klar, das Gedicht für Oskar Pastior »an oskar p. – eine verinnerung« oder das Titelgedicht »wortlos«, in dem die Verben sterben. Das »sonett in dem es nicht regnet / sonett aus dem es nicht schneit« ist geradezu ein Ohrwurm. Wie gut, dass »Wortlos« nicht wortlos ist, sondern Wortlos, also manches mit den Wörtern anstellt: sie ebenso ernst nimmt wie mit ihnen spielt, also lose mit ihnen ihrem jeweiligen Los nachgeht: »drei männer im nebel« – wunderbar.

Nicht nur das einzelne Gedicht ist Leseerlebnis: Die Gedichte in der sinnreichen Gesamtkomposition zu lesen ist anhaltender Genuss. Das Schwere leicht und luftig zu gestalten ist Breuer vorzüglich gelungen. Es ist ein Vergnügen, sich lesend von Wort, Spiel, Sound und Rhythmus? tragen zu lassen. Theo Breuer zählt zu den lyrischen Schwergewichten, wobei seine Gedichte selbst nun wieder filigran, wort- und symbolverspielt mit feiner Ironie? ein Lesevergnügen der besonderen Art sind:

leute

halten auch in düren heute und in letzten tagen morsche türen leere fenster

sehr geschlossen noch wird · nicht einmal · mit pfeffer · geschossen

jedenfalls nicht hier draußen im revier [wespen bleischwer hinter borken]

bei schneefall treiben wir zwischen eggen forken walzen liegt ein hase mit der nase

fett im dreck wir – – – nichts wie · weg

Triumph der Literatur

Zu den Konstanten im frühen Werk gehört ein beinahe naiv ausgedrücktes Erstaunen über die sowohl erhaben als auch gebrochen empfundene Natur und die geheimnisvollen Waldlandschaften der Eifel. Sein neuer Band ist ein beeindruckendes Exempel für die vielfältigen Erkenntniswege der Literatur. Das dialektische Rauschen des Eifelwaldes, in dem aus Verwirrung die reine Luft der Klarheit wird. Dieser Waldläufer ist zum Glück nicht der letzte Mohikaner der Lyrik, er ist in Verwandtschaft zu sehen mit dem lyrischen Schelm Axel Kutsch, den sprachmächtigen Gedichten des Luxemburgers Jean Krier und erinnern gleichzeitig an die durchdachte ungarheinische Lyrik A. J. Weigonis.

Dass eines der ersten Gedichte in »Wortlos« »brinkman, blick« heißt, zeigt die Verbundenheit mit dem rheinordischen Vorreiter. Souverän knüpft Breuer in »an oskar p. – eine verinnerung« und anderen Gedichten an die literarischen Avantgarden des 20. Jahrhunderts an. Was im Lehrbuch steht, ist nur ein Ausschnitt aus der Literaturgeschichte. Lyrische Figuren haben ihr eigenes Leben, auch ihre eigene Vorgeschichte. Sie schwingt mit in den Zeilen?, grundiert die Handlungen. Theo Breuer komplettiert seine Vorstellung von der lyrischen Moderne?. Er entwirft, basierend auf der Literaturgeschichte, eine Art von Lyrik, die über diese literarischen Vorlagen hinausreicht.

Die große Gabe von Theo Breuer ist es, das, was man liest, wie soeben geschehen wirken zu lassen. Immer wieder gibt es diese prächtigen Momente in seinen Gedichten, Szenen, die sich im Gedächtnis festsetzen, die nicht verlierbar sind – eine Art Triumph der Literatur. Um Max Bill zu paraphrasieren: Breuers Gedichte sind »Gegenstände für den geistigen Gebrauch«.

Zusammenspiel

Theo Breuer ist geradeheraus, höflich und bescheiden, macht nicht viele Worte und hat einen feinen Sinn für Humor?. Es scheint, als habe er einen Handfeger genommen und ein paar jargonverdächtige? Wörter aus dem Literaturhaus herausgekehrt. Hinfort mit der kitschigen Sehnsucht nach Dichternähe und noch einmal von vorn anfangen.

»Wortlos und andere Gedichte« ist ein geglücktes Zusammenspiel des Lyrikers Theo Breuer, des Verlegers und Lyrikers Peter Ettl und der feinen Linoldrucke des Künstlers und Künstlerbuchmachers Karl-Friedrich Hacker, das den Leser Seite für Seite sprachlos macht.

Autor: Matthias Hagedorn

Literaturangaben

  • Breuer, Theo: „Wortlos - und andere Gedichte“. Mit Linoldrucken von Karl-Friedrich Hacker. Silver Horse Edition. ISBN 978-3-937037-27-1
  • Theo Breuer, Das gewonnene Alphabet, 89 Gedichte von A bis Z ∙ Glossar ∙ Essay, 121 Seiten, Pop Verlag, Ludwigsburg 2012.

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