diesen Kommentar bitte stehen lassen

Hauptseite | Rezensionen | Rezensionen-Register | S | Spieltrieb


Bitte Krümelpfad oben nicht verändern, erst ab hier nach unten Texte ändern

Spieltrieb

von<br> Juli Zeh

Mühle - (c) Karin Wuelfing/PIXELIO

Was dem Menschen bleibt, wenn jegliche Wertvorstellungen genommen werden, das ist der Spieltrieb. Zumindest ist das so in Juli Zehs zweitem Roman, in dem aus einem Spiel zweier Schüler blutiger Ernst wird. Liebe und Hass, Macht und Ohnmacht, Recht und Unrecht – die Autorin? stattet ihre Protagonisten mit Gleich-Gültigkeit gegenüber diesen Gegensatzpaaren aus und strickt mit literarischer Kunstfertigkeit und starker Prosa geschickt einen Plot. Gleich-gültig: Der Bindestrich zwischen den Wortteilen schafft eine andere Bedeutung des Begriffes. Widersprüche sind aufgehoben und in gleichem Maße geltend.

Das Spielfeld, auf dem sich die Figuren bewegen, heißt Ernst-Bloch?: Bonner Gymnasium und Internat, benannt nach dem Philosophen der konkreten Utopien, der Tagträume und des Prinzips der Hoffnungen. Hier tummeln sich kapriziöse Charaktere?, die andere Schulen nicht mehr haben wollen. Das Privatgymnasium bietet Kindern betuchter Eltern die letzte Chance, das Abitur zu machen.

Die Spieler

Zu den Schülerinnen gehört Ada, hochbegabt, aber vor allem schwierig. Als die 14-Jährige im Sommer 2002 in die zehnte Klasse kommt, sieht sie im Ernst-Bloch eine Art Sammelbecken: „Mir war so, als sei dies ein Ort für wirklich kluge, wirklich kaputte, wirklich kategorische Menschen.“ Im Unterricht nutzt Ada Sprache als eine Waffe. Ihrer Eloquenz und philosophischer Treff- und Textsicherheit ist eigentlich nur ein Lehrer gewachsen: Höfi, der Geschichtslehrer, genannt Bluthund, der Dummheit auf zehn Meter gegen den Wind wittert. Über seine Meisterschülerin Ada sagt er: "Armes Kind. Du komische, kombustible, verlorene Seele. Wäre ich dein Vater, hätte ich dich in der Badewanne ertränkt". Ada nimmt den Ausspruch mit stoischer Ruhe zur Kenntnis. Überhaupt scheint ihr alles gleich-gültig zu sein. Mit Springerstiefeln, kurzem Haar und gedrungenem Körper ist sie auch körperlich ein Underdog auf dem Ernst-Bloch mit seinen Prinzessinnen und Galanen samt Hofstaat. So tituliert Ada ihre schönen, schlanken Mitschülerinnen, diese samt- und seidenweichen Mädchen, die ohne Akne ihre Pubertät wie Profis meistern, als hätten sie diese schon mehrmals erlebt.

Ada ist schnell und gewandt - im Denken, Reden und im Laufen. Diese Kombination von Eigenschaften fasziniert den sympathischen Deutsch- und Sportlehrer Smutek, der das Ernst-Bloch zu einem Leichtathletikzentrum ausbauen will. Ein hinterlistiges, zunächst vermeintlich harmloses Spiel mit dem unbedarften Smutek beginnt, als der übersmarte Alev die Arena betritt. Er ist sofort der Schwarm aller Prinzessinnen, findet aber nur in Ada eine Geistesverwandte und Verbündete in einem Seelenmatch auf Leben und Tod. Alev zieht die Fäden, denn nicht nur die gesamten Schüler inklusive Ada sind ihm verfallen. Er schlägt auch die Lehrer in seinen Bann und schließlich den Leser, der atemlos dem Geschehen folgt.

Alev ist ein juveniler Mephisto?, klein, dunkelhaarig, schön und klug, der an Ada die Hauptrolle seiner Inszenierung vergibt. Er diktiert die Spielregeln. In Alevs Hand werden Mitschüler und Lehrer zu Laborratten seiner Versuchsanordnung im Experiment Leben. Alevs Bibel ist MusilsMann ohne Eigenschaften?“. Selbstverständlich lässt er sich nicht von der Komplexität und dem Anspruch dieses Werkes, das als eine der größten deutschsprachigen Erzählleistungen des 20. Jahrhunderts gilt, abschrecken. Während an der Lektüre des „Mannes ohne Eigenschaften“ auch Literaturliebhaber scheitern, bleibt Juli Zehs Roman spannend bis zum Schluss. Denn es scheint, als würde Alev auf Ernst Bloch eine Blutspur emotionaler Verwüstung hinterlassen.

In der Realität ist ADA eine Programmiersprache. In Juli Zehs literarischer Fiktion programmiert Alev seine Spielfigur Ada auf Hörigkeit. Der Halbägypter zieht Ada in eine Erpressung hinein. Eine Erpressung, die zunächst nichts will. Ada sieht nicht nur viel älter als 14, sie ist längst kein Teenie mehr. Sie ist geistig so abgebrüht, dass sie schon als 12-Jährige erkannt hat, dass Sinnsuche ein Abfallprodukt der menschlichen Denkfähigkeit sei. „Ich habe keine Seele“, behauptet sie von sich. Und so pflegt sie weiter abgeklärt ihre Unnahbarkeit und Gleich-Gültigkeit.

Wie Juli Zehs Protagonistin heißt auch eine junge Titelheldin Nabokovs?, der in „Ada oder Das Verlangen“ aus den Annalen? einer Familie erzählt. Und auch dieses Spätwerk? Nabokovs handelt von zwei Hochbegabten. Bei Nabokov ist der Roman in einem imaginären Land angesiedelt, das letztlich aber nichts anderes verkörpert als eine Art Ernst-Bloch.

Die Figuren in „Spieltrieb“ werden weder erklärt, noch unter moralischen Gesichtspunkten verurteilt. Wenn Ada und Alev sich im Unterricht schlagfertig Bälle zuwerfen und mit Worten jonglieren, dann braucht man auf die nächste sprachliche Spitze nicht lange zu warten. Die beiden Hauptfiguren regieren in einer monströsen Überlegenheit über die Prinzessinnen und deren Hofstaat an Ernst-Bloch. Während Höfi mit Ada und Alev auf intellektueller Ebene gleichzieht, ist Smutek den beiden Wortakrobaten nicht gewachsen.

Spielmittel

Alle Protagonisten sprechen eine psychologisch und philosophisch ausgefeilte Sprache. So muss man erstmal schreiben können. Manchmal klingt das Spiel mit der Sprache allerdings so, als hätten alle ein Philosophie-Lexikon? vor sich liegen, aus dem sie zitieren. Metaphern, Zitate, Allegorien und Aphorismen wechseln sich temporeich ab. Die Metaphern meißelt Juli Zeh – wuchtig und gleichzeitig leicht – mit der Feder ins Gedächtnis des Lesers. Dieser schwimmt gegen einen Strom von bildhafter Sprache, die den Erzählfluss zuweilen behindert und dadurch den Fortgang der Handlung verzögert. Man möchte über den Zeilen? verweilen, noch einmal nachlesen, man bleibt in Erwartung, verliert die Geduld, lässt sich schockieren, man verfällt in Erstaunen und es wird einem schwindelig angesichts Juli Zehs sprachlicher Höchstleistung. Man kann ihre Ausdrucksweise für wunderschön halten oder für ganz schön konstruiert. In jedem Fall sind die Sprachexzesse originell: große Worte von Noch-Nicht-Erwachsenen, deren Essenz man durchaus genießt, obwohl die Sätze aus dem Munde der Jugendlichen und der Lehrer samt Angehörigen manchmal gestelzt daherkommen. Virtuos und meisterhaft oder Kakophonie?

Letztlich ist Sprache und vor allem der philosophische Sprache der Gegenstand dieses Buches: Zeh setzt auf der Metaebene an. Es geht nicht darum, zu schreiben, wie Menschen sprechen, sondern Sprache ist Stil- und Spielmittel. Selbst wenn Juli Zeh vom Wetter erzählt, geschieht dies hintersinnig und feinsinnig. Die kalte Sophie – so wird die Richterin genannt, die über den schwierigen Fall Alev, Ada und Smutek entscheiden soll. Am Schluss der Gerichtsverhandlung hält Ada ein leidenschaftliches Plädoyer. Und so handelt der Roman letztlich von Rhetorik? und Eloquenz? als Mitteln, Menschen zu manipulieren. „Sprache ist Antriebsmotor, Inhalt und kunstvolles Ergebnis unserer seltsamen Welt“, schreibt Juli Zeh. So fühlt sich Ada in bekifftem Zustand selbst wie eine Metapher: „Im Treppenhaus tat das Cannabis ein Stück seiner Wirkung, sorgte für Luftkissen unter den Fußsohlen und brachte Ada dazu, sich selbst für eine Metapher zu halten, allerdings ohne zu wissen, für was sie stand.“

Spielanordnung

Die Juristin und Schriftstellerin Zeh wagt das Unmögliche und lässt es möglich erscheinen. Sie zeichnet das Bild einer Generation der Gegenwart aus dem Blickwinkel der Zukunft und trifft präzise einen Zeitgeist, den man voll und ganz doch erst im Nachhinein wird beschreiben können. „Wir sind die Urenkel der Nihilisten“, titulieren die Protagonisten sich selbst. Mit ihrem Porträt der Generation 2000 wird Juli Zeh zur Chronistin? alltäglicher Eiseskälte.

Die Postmoderne ist schon lange vorbei, eine neue Bezeichnung für unsere Epoche ist noch nicht gefunden, und wird sich wohl auch erst in Zukunft finden lassen, wenn das Heute Vergangenheit geworden ist. Vielleicht wird man unsere Zeit später als Postpopexistentialismus titulieren.

Nach der in den frühen 1990er Jahren heraufbeschworenen Gen-X erscheinen Ada und Co wie Repräsentanten einer Generation matriX. Was ist Spiel, was ist Realität? Was ist Spiel, was ist Trieb? Was ist Spiel, was ist Ernst? Was ist Spiel, was ist Phantasie? Eine Generation, die nicht mehr an Gott glaubt, aber auch nicht an das Nichts glaubt oder an Alles. Es wird eine Generation beschworen, der Alles oder Nichts gleich-gültig ist. Für Smutek ist das jene Generation, „die einen Herzschrittmacher braucht, um ein menschliches Gefühl zu erzeugen“. Vielleicht verkörpern Alev und Ada eine Jugend, die nichts will und alles hat. In ihrer Welt ist Gewalt etwas Selbstverständliches. Die Generation der Vogelfreien: „Desperados ohne Wilden Westen. Guerillas ohne Krieg.“ Der Staat hält das Gewaltmonopol inne und darf in seinen Sozialisationsanstalten strukturelle Gewalt ausüben. In „Spieltrieb“ scheint die Gewalt von Jugendlichen eine Antwort darauf zu sein. Man will die Gründe für Adas und Alevs grausames Handeln erklären und verstehen, bis man dahinter kommt, dass es gar keine Ursachen gibt. Die juvenilen Straftäter sind erschreckend und im Falle von Alev und Ada erschreckend klug.

Das große Sujet? des Romans ist, neben der Frage nach Recht und Unrecht, die Vorhersagbarkeit menschlichen Handelns. Am Ende des Buches sagt Ada in ihrem Plädoyer: „Ich breche keine Lanze für die Anarchie. Ich schildere Ihnen nur die spezielle Müdigkeit, die jeden befällt, der sich anhören muss, was gut und böse, richtig und falsch sei, obwohl niemand mehr die Grundlagen dieser Unterscheidung zu erklären oder auch nur zu benennen vermag. Moral dient der Herbeiführung von Berechenbarkeit. Der Mensch ist, ich wiederhole es noch einmal, am berechenbarsten, wenn er pragmatisch handelt. Wenn er spielt.“

Spieltheorie

Die Versuchsanordnung im Match Alev/Ada gegen Smutek läuft auf die Theorie des Gefangenendilemmas hinaus, das als theoretisches Konstrukt innerhalb der Spieltheorie in den 1950er Jahren in den USA erdacht wurde: Zwei Häftlinge werden verdächtigt, gemeinsam ein Verbrechen begangen zu haben, wobei die Höchststrafe für die Straftat fünf Jahre beträgt. Beiden Gefangenen wird nun ein Deal angeboten, von dem ein jeder weiß. Wenn ein Delinquent gesteht und somit auch seinen Komplizen belastet, kommt er ohne Strafe davon, während der andere die Höchststrafe erhält. Verweigern beide die Aussage, bleiben nur Indizienbeweise. Beide müssten nur zwei Jahre absitzen. Würden beide die Straftat gestehen, käme jeder vier Jahre hinter Gitter. Nun werden die Häftlinge einzeln verhört, ohne sich absprechen zu können. In dieser Spiel- oder Versuchsanordnung sind beide Personen von der eigenen wie auch der Entscheidung des anderen abhängig. Das geschilderte Dilemma beruht darauf, dass der eine nicht weiß, was der andere tut. Würden beide Häftlinge die Aussage verweigern, bekäme jeder nur zwei Jahre. Dies würde jedoch nur auf der Basis von Vertrauen funktionieren.

Im Gefangenendilemma spielt es keine Rolle, ob einer der Angeklagten schuldig oder unschuldig ist. Im Falle eines Verrates scheint es für einen Unschuldigen besser zu sein, eine nicht vorhandene Schuld zu gestehen. Im Falle von Alev, Ada und Smutek machen sich alle Beteiligten strafbar. Spannend bleibt die Frage, wie sich die Angeklagten verhalten werden, ob sie einander verraten oder vertrauen, indem sie schweigen, um das bestmögliche Urteil zu erhalten.

In „Spieltrieb“ gibt es zum Schluss nur einen Verlierer und selbst der kann an seiner Niederlage nur gewinnen. Trotz Postpopexistenzialismus wird dem Leser ein positives Ende gegönnt. Auch wenn das Happy End ? nur vorübergehend ist ...

Spielergebnis

Schaut man sich Pressestimmen zu „Spieltrieb“ an, fällt auf, dass die Rezensenten entweder himmelhoch loben oder mitsamt seiner Prosa in der Luft zerreißen. Die Bandbreite der Kritik reicht von genial bis stumpfsinnig. Krasse Gegensätze in einem krassen Buch rufen krasse Unterschiede in der professionellen Kritik hervor. Das zeigt jedoch vor allem eines: „Spieltrieb“ ist ohne Zweifel ein enorm wichtiges Buch. Mit den Rezensenten und ihren Meinungen verhält es sich wohl so, wie Ada formuliert: „Meinung? … Ich bilde schon lange keine Meinungen mehr. Ich sage Dinge, weil sie besser klingen als andere, die ich ebenfalls hätte sagen können.“

Um sich eine eigene Meinung zu bilden, gibt es nur eines: Lesen!

Literaturangaben

  • Zeh, Juli: Spieltrieb. Roman. btb Verlag, Berlin 2006, 568 S., 10 €, ISBN: 978-3442733699

Bitte Krümelpfad unten nicht verändern


Hauptseite | Rezensionen | Rezensionen-Register | S | Spieltrieb

Daten hochladen
Buecher-Wiki Verlinken
FacebookTwitThis
Pin ItMister Wong
RSS-Feed RDF-Feed ATOM-Feed

schliessen