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Die Nacht, die Lichter

von<br> Clemens Meyer

Großstadtlichter - (c) A. Dreher/PIXELIO

Die Sache scheint klar: Was für die Außenseiterikone Charles Bukowski? (1920-1994) der Elendsbezirk North Hollywood im kalifornischen Moloch Los Angeles war, ist für Clemens Meyer sein „Viertel“ im Ostteil von Leipzig. Was dem einen die Pferderennen, wo er die letzten Dollars verwettet, ist dem anderen der Boxkampf, wo er seinen Freund anfeuert. Solche Vergleiche – durchaus auch mit dem Skinhead-Autor André Pilz? (*1972) oder John Fante? (1909-1983) – drängen sich auf, wenn es um die Themen der Prosa des Jungautors Clemens Meyer geht. Der 1977 in Halle geborene Meyer hat nun zwei Jahre nach seinem Debütroman? „Als wir träumten“ seinen Erzählband „Die Nacht, die Lichter“ vorgelegt.

Die Parallelen zu den eingangs genannten Autoren werden begrüßt von den Bewunderern jenes Genres, welches mal als Selbstdarstellung und Milieubeschreibung, mal als Männer- und Vulgärliteratur gehandelt wird. Und genauso gerne entdecken die Feuilletons? die starke Identität von Leben und Werk? eines Autors, um so seine Literatur zu begründen und herzuleiten. Besieht man sich Meyers mit Tattoo-Tinte übersäte Haut sowie seine Biographie, die zeigt, dass er vor ernsthafter Schriftstellerei und Leipziger Literaturinstitut? diverse einfache Brotjobs machte, scheinen die Bezüge auf der Hand zu liegen.

„Jeder stirbt für sich allein.“

Aber doch will Meyer nicht so richtig in einen Stammbaum der geschlagenen Hunde passen. Grund dafür sind die abgeklärten Aussagen des Autors selbst. Er wollte nach bestandenem Abitur arbeiten und zwar mit den Händen, also ging er auf den Bau. Auch lehnt er es ab, Teil einer „verlorenen Generation“ gewesen zu sein.

Clemens Meyers erster Roman „Als wir träumten“ war tatsächlich gespickt mit harten Dialogen?, Schlägereiszenen, die den Leser auf der gemütlichen Couch zusammenzucken ließen sowie mit Aufenthalten in Jugendknast, Krankenhaus und Polizeirevier Leipzig Südost. Schilderungen von kleinkriminellen, drogen- und alkoholschwangeren Aktionen gaben sich mit seitenlangen? Beschreibungen von Billardmatches, Bordellbesuchen und Boxkämpfen die Klinke in die Hand. Aber eben nicht ausschließlich!

Sanftere und unscheinbarere Zwischentöne

In seinem neuen Erzählband sind auch wieder die sanfteren und unscheinbareren Zwischentöne zu finden, die treffenden Details, welche Abbild der Verzweiflung, überhaupt des Inneren der Figur werden und sich trotzdem nicht aufdrängen. Die Hoffnung auf Idealeres und die Sehnsucht nach einer Art Frieden im täglichen Krieg – diese starken Themen werden nicht durch den Filter des Abstrakten? oder Absurden gepresst, sie werden klar und ja, auch naiv und vor allem, wertfrei formuliert. Von expliziten Schuldzuschiebungen dieses Lebens zwischen Exzess und innerer Leere, die der Äußeren entspricht, ist weder in „Als wir träumten“ noch in „Die Nacht, die Lichter“ die Rede.

Die Scham vor der Armut, das Kämpfen um das Aufrechterhalten eines kleinen Stolzes und immer wieder das Warten – diese gemütszermürbenden Grauzonen beschreibt Meyer, aber ohne die Attitüde eines von der Gesellschaft Gebeutelten. Ohne Koketterie und Kommentar boxen sich seine Glück suchenden, aber leider oft schon zu Beginn glücklosen Figuren durch ihre Geschichten. Sehr kunstvoll, aber nicht vordergründig wurden schon in seinem Debütroman?, durch knappe Beschreibungen? des Protagonisten, seelische Regungen eingefangen.

Die Kunst der beiläufig metaphorischen Verknüpfung

Diese Kunst der beiläufig metaphorischen Verknüpfung des innerlich Seelischen mit dem äußerlich Simplen verbindet Meyer in „Die Nacht, die Lichter“ nun mit einer Art kreisenden Erzähltechnik?, die eine borchertsche? Kraft entwickelt. Die Form der Kurzgeschichte scheint genau sein Rahmen zu sein, in dem diese Realitätsnähe einerseits und deren artifizielle Brechung andererseits zusammenfinden können.

Nein, mit diesem Erzählband beweist Meyer, dass er keine literarische Eintagsfliege ist, die sich nach biographischer Selbstentblößung nun dem Vorhaben widmet, in den Kneipen des „Viertels“ die Tantiemen? seines Debütromans? in Flüssiges umzusetzen. Auch von diesen, den Kneipen, ist wieder die Rede in seinem traurigen, eindringlichen und rätselhaften Buch. Genauso wie von deren Gästen, die man euphemistisch? als „sozial Schwache“ und romantisch als „Gescheiterte und Zukurzgekommene“ bezeichnen mag.

Träumereien und Vorstellungen des Erzählers

In Meyers „Stories“ werden bestimmte Ereignisse oft zu Angelpunkten, deren Sachverhalte er neu variiert und wieder auflöst. Andere Möglichkeiten werden angedeutet, welche Träumereien und Vorstellungen des Erzählers sein könnten. Wünsche, wie der eines schwarzen Boxers aus Rotterdam, vollständig aus dem Boxgeschäft auszusteigen, eine Familie zu gründen und nicht mehr „kaputt am Ringboden“ zu liegen – diese Wünsche werden vom Erzähler oft repetiert. Meistens, wenn das Geplante auf der Kippe steht.

Jener lichte Konjunktiv? in der meist dunklen Lebensgrammatik der Protagonisten löst immer wieder kurzzeitig die unabänderlichen Bande, die diese Menschen gefangen halten: Der demütigende, immer wieder durchexerzierte Besuch beim Sozialamt, der scheiternde Entzug, das Gehen eines geliebten Menschen, der Alkohol. Die kleinen Träume seiner Figuren sind, in der großen Nacht, die Lichter, die der Autor Meyer poetisch entflammt und flimmern lässt. Die antagonistische? Zusammensetzung der Begriffe? Nacht und Lichter, Dunkelheit und Helle, findet sich immer wieder in den oft monologartigen? Prosastücken.

Schnell geleerte Schnapsflaschen

So wie im Beginn von „Warten auf Südamerika“: „Seine Mutter saß im Dunkeln. ‚Was ist los’ sagte er, ‚willst du kein Licht machen, es wird Abend.’ ‚Ach’, sagte sie, ‚ich sitze gerne hier und sehe zu, wie es langsam dunkel wird.’ (…) Er sah die Kerzen dort, und jetzt wusste er, dass sie nicht freiwillig zusah, wie es langsam dunkel wurde. Sie hatten ihr den Strom abgestellt.“ Oder wie in der Titel gebenden Story, die so beginnt: „Es ist die letzte Nacht, die ich habe, aber das sage ich ihr nicht, und wir laufen durch die Straßen, und ich blicke auf die Lichter und dann auf sie, denn sie ist genauso schön wie früher, als wären wir noch immer fünfzehn, sechzehn, nein, sie war dreizehn gewesen, und irgendwie ist ein Teil von damals noch in ihr, und ich blicke auf die Lichter und erzähle so dies und das.“

Der Leser wird manchmal sanft, manchmal unsanft in diese Begebenheiten hineingeworfen und hat sofort Teil an Meyers Welt, in der die Straßenlampen stehen, die Schnapsflaschen schnell leer, die Fäuste schnell locker werden, der Regen fällt und selten das Tageslicht scheint.

Ein komplexes System der individuellen Gefühle

Die Figuren in „Die Nacht, die Lichter“ sind aber durchaus verschieden von denen, die man in seinem Roman antrifft: Ein Weinvertreter, der in einem Zug aufwacht und auf einen Hobbyprediger trifft, der mehr mit ihm zu tun hat, als man erst annimmt. Ein Bauer, der seine Hühner und seinen Hund tötet und begräbt, resigniert durch das verlassene Dorf streift und seine Frau am Grab besucht. Oder ein dicker Lehrer, der einer Schülerin zuviel Aufmerksamkeit schenkt, sodass er von seinen Schülern denunziert wird und seine Stelle verliert.

Doch natürlich findet sich in den 15 Stories auch etwas mit autobiographischen Anklängen. Die Erzählung „In den Gängen“ handelt von einem jungen Mann, der vom Bauhelfer zum Warenverräumer wechselt und der am Ende den unerklärlichen Selbstmord eines guten Freundes und Kollegen zu betrauern hat. „Reise zu Fluss“ erzählt anfänglich von Gefängnisinsassen, die nachts wach liegen und vom „Knastmond“, einer Laterne vorm vergitterten Fenster, beschienen werden. Unter all diesen typisierten Charakterfolien lässt Clemens Meyer immer ein komplexes System der individuellen Gefühle durchscheinen, welches sich dem Leser nie vollständig enthüllt. Auch die Handlungsabläufe sind, resümiert man sie als Leser, eigentlich einfach. Es ist eben die Art, wie Meyer erzählen kann.

Die Sprache - langsam und düster, schnell und grell

Mitten im Satz? wird die zeitliche oder innere und äußere Perspektive gewechselt. Dem Leser wird damit höchste Konzentration abverlangt. Oft vermutet man das nicht, wenn man die ersten Zeilen? der Stories liest, welche die Lektüre einer gradlinigen klassischen Erzählung versprechen. Natürlich hat dieses Prinzip manchmal etwas Konstruierendes?, wird es zu oft von ihm angewandt.

Aber seine Sprache, die zwischen langsam und düster („Der kleine Tod“) und schnell und grell („Die Laterne, die Flinte und Mary Monroe“) changiert, sowie die spürbare Liebe zu seinen Figuren machen das wieder wett. Dem Leser wird Freiraum gelassen, wie es nach der Geschichte mit diesen Figuren wohl weitergehen mag. Es werden Andeutungen gemacht, doch ein abschließendes Ende ist den Geschichten selten gegeben. Diese Stories verdienen ihre Gattungsbezeichnung, denn sie haben das Format derer von O. Henry? oder Hemingway.

Ob es nun bald auch eine literarische Kategorie der „Neuen Leipziger Schule?“ geben wird, wie es in der Malerei schon geschehen ist, um Neo Rauch und Co. eine Schublade zuzuteilen – wir wissen es nicht! Jedenfalls würden Clemens Meyer, Juli Zeh und Co. dies sicher nur belächeln.

Literaturangaben

  • Meyer, Clemens: Die Nacht, die Lichter. Stories. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2008. 272 S., 18,90 €, ISBN: 978-3100486011

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